Die Kuckucksuhr

Die Erinnerung an unsere alte Kuckucksuhr reicht bis weit in meine Kinderzeit zurück. Was hat sie mir doch damals für schöne, glückselige Stunden gerufen ... Als ich noch ein Knabe war, saß ich oft stundenlang davor und horchte mit verhaltenem Atem auf das heimelige Ticken ihres kleinen Herzens ... und meine Augen hingen erwartungsvoll an der kleinen, winzigen Türe, die allemal auf- und zusprang, wenn der Kuckuck wieder eine neue Stunde rief und sich dabei neugierig in der großen Wohnstube umschaute.

Die Kuckucksrufe krochen dann jedesmal bis in die verstecktesten Winkel meines Kinderherzens hinein ... Und wenn die großen Schulferien kamen, dann sprangen sie aus ihren Verstecken hervor und schlugen Purzelbäume übereinander ... so daß mein kleines Herz beinahe zu zerspringen drohte.

Einmal – freilich, da hat mir unsere liebe, alte Kuckucksuhr auch eine recht trübe Stunde gemacht. Und ihr banger Abschiedsruf hallte noch lange draußen in der Fremde durch mein heimwehmüdes Herz ...

Und wenn wir uns nach langer Zeit wieder einmal sahen, da war es, als ob sie noch nie eine so goldene, lockende Stunde für mich gemacht hätte ... und ich umklammerte ihre beiden schweren, nimmermüden Hände und drückte sie in dankbarer Freude an mein wildpochendes Jünglingsherz.

Und einmal, da kam eine Zeit, da hat man ihr gutes treues Herz gewaltsam zum Stillstehen gebracht. Es war bei einem Umzug von der Kleinstadt – meinem seligen Kinderland - zur Großstadt. Da hat man sie eingesargt und neben altem Gerümpel in der Dachstube droben ihrem Schicksal überlassen.

Der Vater, der mit ihr alt geworden, konnte das Ticken und Rufen nicht mehr ertragen. Und so ist mit ihr ein Stück poesieumflossener Vergangenheit jählings aus unserer Mitte geschieden. Vergessen aber konnten wir unsre liebe alte Kuckucksuhr nie.

Den Vater hatten sie längst zu letzten Ruhe gebettet, da fing plötzlich an einem goldenen Frühlingstag , nach dem Takte meines ver-träumten Herzens, etwas wie in weiter, weiter Ferne zu singen an ... Und als ich tief zu Innerst horchte, da hörte ich mit einemmal den verirrten Ton eines Kuckucksrufes aus dem Kinderland ... Und die Sehnsucht nach etwas längst Verlorenem wurde wieder wach und zauberte mir die lieblichsten Bilder aus dem sonnigen Jugendmärchenland vor die müde, müde Männerseele ...

Von der Kirche drüben läuteten gerade die Glocken ... da schlichen wir uns – meine alte Mutter und ich – ganz leise zur Dachstube hinauf. Dort – in dem hintersten Winkel schlief sie ihren mehr denn zwanzigjährigen Dornröschenschlaf - und als ich sie behutsam, fast feierlich empor hob, da war mir, als trüge ich jetzt ein Stück meiner Kindheit in den Armen.

Und als ich ihr dann über dem kleinen Schreibtisch einen Ehrenplatz eingeräumt, da schaute sie zuerst mit ihren verschlafenen Augen neugierig in der ihr völlig fremden Stube umher und über all die trauten Gegenstände von dazumal, bis zuletzt ihr müder Blick an ihrem vertrauten Freund, dem alten Lehnstuhl in der Ecke drüben, hängen blieb.

Und mit ihrem leisen, melancholischen Herzschlag ... zog eine weihevolle Stunde um die andere aus den goldenen Tagen längst entschwundener Zeiten herauf ... Als sich die kleine Türe zum erstenmal wieder auftat und der liebe alte Kuckuck zuerst nur mühsam ein ganz schüchternes "Kuck" heraus rief, da sah ich plötzlich einen kleinen, blondhaarigen Buben, den Schulranzen umgeschnallt und ein großes Vesperbrot in der Hand, winkelige Kleinstadtgassen queren ... und ich hörte die Stimme meiner Mutter meinen Namen durch den rosenbehangenen Garten rufen ...

Nach und nach aber wurde aus dem schüchternen "Kuck" wieder der alte, traute Ruf von einst ... und einer davon stahl sich durch das offene Fenster in eines kleinen, blonden Buben Herz hinein ... und der fing an zu singen, "Kuckuck, Kuckuck, ruft's aus dem Wald!" Und jubelnd pfiff ich das kleine Frühlingslied mit ... und im Herzen wühlten die fröhlichen Kuckucksrufe alte Kindergeschichten auf.

Durch die Stube irrte ein verwehter Duft von Jasmin ... die Vögel fingen an zu singen ... und der junge Blütenschnee stob wieder wie einst um das kleine, selbstgezimmerte Gartenhaus ... Mein altes Mütterlein aber stand daneben, nahm mich bei der Hand und streichelte mir wie damals, als ich noch ein Knabe war, über das Haar ... und der Kuckuck droben sprengte die Türe ... und lachte dazu.

Und immer und immer wieder rief er uns mit seiner Märchenstimme, so laut er es nur vermochte, ins Herz hinein: "O selig, o selig, ein Kind noch zu sein!"

Süddeutsche Zeitung, 6.4.1924