Württembergische Verkehrs- und Eisenbahnzeitung, 23. Juli 1921

Morgenwanderung im Hohenlohischen
Von Richard Haldenwang

In der Frühe.

Das altersgraue Neuensteiner Schloß (1564 erbaut und vor Ausbruch des Krieges 1914 renoviert) mit seinen Türmen und Ultanen ragt majestätisch empor. Der Herrensee davor besieht sich mit stoischer Ruhe den Riesenleib der verjüngten Burg.

Ich wanderte vorüber, die Landstraße entlang. Tiefe Stille ringsum. Ab und zu trillert die Lerche ihr Morgenlied. Und drüben im Osten rüstet die Sonne zum Aufbruch.

Es geht bergauf, bergab. Schmucke Höfe und Weiler grüßen von allen Seiten herüber, und die Waldenburger Bergkette zieht sich in der Ferne, nebelumflort dem Tal entlang. Zu beiden Seiten wogen und rauschen die Felder. Und aus den kleinen wohlgepflegten Gärtchen lachen und leuchten glückverheißend die Rosen in den schönen Sommertag hinein . . .


Schon zerstieben die Nebel. Und am lichtblauen Horizont flammt glutrot die Sonne auf und überflutet mit ihren goldenen Strahlen sieghaft die heimatlichen Fluren.

Nun steht plötzlich der Wald vor mir. Friedlich reckt er seine laubumkränzten Arme gen Himmel, und in den Wipfeln der Bäume singt und klingt es gar eigen . . . Ein Lied um das andere erschallt aus den Zweigen und lichtgrünen Verstecken . . . Wie beneide ich die lustigen Gesellen da drinnen. Sie lasten nicht unter dem Druck unserer Zeit. Für sie gibt es keine starren Paragraphen, wie für die Menschen, als da sind: Zuzugsgenehmigung, Umlagen, Wohnungsnot. Sie pfeifen darauf . . . Und bauen sich ihr Nest, gerade wo es ihnen behagt.

Immer tiefer geht's in den Wald hinein. Und mehr denn ein lustiges Wanderlied kommt mir über die Lippen . . . Im Vorübergehen sah ich in den Stamm einer alten Buche zwei Namen in Herzform eingegraben. Und darunter: "Frühjahr 1900." Und ich dachte bei mir: "Was müssen das einst doch für glückselige Tage gewesen sein!"

Der Wald liegt hinter mir. Und schon grüßt das idyllische Friedrichsruh entgegen. Ich biege von der Landstraße ab, durch die schmalen Wege; als ich durch die Einsamkeiten dieses Parkes schreite, ist mir, als ob ich in eine versunkene Märchenwelt komme.

Da steht es auch schon vor mir, das einsame Jagdschlößchen: Friedrichsruhe. Das Besitztum des fürstlichen Hauses Hohenlohe-Oehrigen (1712 bis 1717 erbaut, anstelle eines 1612 angelegten Tiergartens). Ein langgestreckter Bau mit Schnörkelgiebeln aus der Spätzeit des Empiregeschmacks.

Die verschlossenen Läden verleihen dem Gan-zen etwas eigentümlich Dornröschenhaftes; - eine zauberische Stille. Epheu wuchert und Rosen, rote Rosen blühen und Vergißmeinnicht in Fülle.

Ich gehe durch die herrlichen alten Alleen; die Kronen der uralten Bäume rauschen leise und ge-heimnisvoll im Morgenwind.

Wenn im Sommer die Rosen glühen, da ist es an diesem stillen Fleckchen am schönsten.

Wie lange ich dies Paradies im Vorübergehen genossen habe, weiß ich nicht; doch als mich die Zeit daraus vertrieb, war mir's weh und wohl zugleich.