Liebeskummer als Weg der Reifung
Econ-Verlag, 143 Seiten,
21 Aquarelle
 

Leseprobe

Liebeskummer als Weg der Reifung
Econ-Verlag, Seite 59-64

Keines tönt ewig wieder

Nach meinem letzten Brief sind nun einige Tage vergangen. Ich hoffe, es geht Dir besser. Es ist positiv, daß Du derzeit diese Trennungsphase erlebst; sie ist eine Chance für Deine Entfaltung. Ich möchte deshalb heute mit einen melancholisch-süßen, düster und doch auch hellen Gedicht von Hermann Hesse beginnen.

Blätter wehen vom Baume,
Lieder vom Lebenstraume
Wehen spielend dahin;
Vieles ist untergegangen,
Seit wir zuerst sie sangen,
Zärtliche Melodien.
Sterblich sind auch die Lieder,
Keines tönt ewig wieder,
Alle verweht der Wind:
Blumen und Schmetterlinge,
Die unvergänglicher Dinge
Flüchtiges Gleichnis sind.

Ich bin heute durch die herbstliche Landschaft gewandert. Die Sonne war klar, sehr hell, sie stand tief und warf lange dunkle Schatten. Es lohnt sich, an diesen Herbsttagen Spaziergänge zu machen. Die uns umgebende Natur ist so wunderschön, und wir können das jeden Tag sehen und genießen, wenn unser Denken uns nicht meist mit unseren Plänen, Ideen und Strategien davon abhalten würde.

Der Wind wehte die Blätter von den Bäumen; sie senkten sich drehend auf den Waldboden und legten sich voller Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit auf die Steine, auf das glitzernde Wasser des Baches und auf die bemooste Steinbank. Die Lieder Deines Lebenstraumes sind den Blättern ähnlich: Wenn die Zeit gekommen ist, lösen sie sich und wehen spielend dahin.

Du hast die Lieder Deines Lebenstraumes auch mir vorgesungen. Es sind zärtliche Melodien, die wir gerne singen, während um uns herum sich vieles verändert. Wir halten an diesen Melodien fest und singen sie immer wieder. Aber sterblich sind auch diese Lieder. Die Lieder in der Pubertät klingen anders als die in der Adoleszenz. Die Melodien wandeln sich; mal sind sie leise und voller Anteilnahme, dann wieder expressiv drängend, voller Kraft und Optimismus. Wir gehen auf die Tatsachen zu oder wenden uns von ihnen ab. Es gibt Tage, an denen wir uns leicht verlieben, und die Tage, die uns in großer Verwirrung und Unsicherheit zurücklassen.

Wie schön sind die Lieder der Kindheit, voll Intensität und Selbstvergessenheit. Sterblich sind alle Lieder, Du weißt das, keines tönt ewig wieder. Der Lebensbaum in seinem Wachstum hält sie nicht fest, sondern läßt sie los, wenn die Zeit gekommen ist. Alles hat seine Zeit. Die Knospe braucht ihre Zeit; sie scheint stillzustehen in den ersten Märztagen, wenn Du glaubst, sie müßte gleich aufbrechen. Und dann sind die Blätter eines Morgens da, in ihrem ersten Maigrün. Es scheint uns undenkbar weit, daß sie sich verändern könnten, daß im Oktober der Wind sie verwehen könnte.

Auch die Blumen und Schmetterlinge, die Dich im Sommer glücklich machen, im Selbstvergessen des Schauens so unvergänglich - sie sind nur ein flüchtiges Gleichnis für das Kommen und Gehen. Jede Begegnung hat ihre Zeit. Zeit des ersten Blicks, der ersten Worte, der ersten Berührung, die Zeit der Nähe voller Ewigkeitsgefühle und die Zeit der Distanz, die alles wieder in Frage stellt. Die scheinbar unvergänglichen Dinge: Alles ist nur ein Augenblick, gemessen an der psychologischen Zeit, in der Sekunden zu Minuten werden oder Stunden zu Sekunden. Jedes Erlebnis ist flüchtig. In der Begrüßung ist schon der Abschied enthalten, aber jeder Abschied enthält auch die Begrüßung. Wie die Natur in ständiger rhythmischer Verwandlung ist, so bist Du es auch, als ein Teil der Natur, als ein Teil dieses Ganzen.

Was der Wind im Herbst verweht, faßt das Frühjahr wieder zusammen, damit es erneut verweht werden kann. Kommen und Gehen, und Du bist ein Teil davon. Sei total und authentisch im Kommen, aber sei auch authentisch im Gehen. Die Seele und der Körper fließen mit, der Geist aber und sein Denken wollen sich dagegen wehren. Das Denken möchte festhalten, was nicht festzuhalten ist. Gefühle sind nicht festzuhalten. Der Wind wird kommen, der die Lieder vom Lebenstraum wegnimmt, und dann wehen sie spielend dahin. Die scheinbar unvergänglichen Gefühle, sie sind flüchtig, deshalb kein Grund für Schuldgefühle. Alles ist flüchtig und alles weht spielend dahin. Du selbst wirst sterben und mit Dir die Gefühle, auch die Gedanken, Pläne und Ideen. Sterblich sind alle Lieder, keines tönt ewig wieder.

Aus der Knospe wird ein Blatt. Wir können nur schauen und lauschen. Du wirst Dir das Blatt nicht an den Zweig zurückdenken, wenn im Herbst die Loslösung erfolgt. Das Denken kann nichts wollen und konstruieren in der Welt der Gefühle, und das Denken sollte sich deshalb nicht einmischen, denn es geschieht unabänderlich, was geschehen muß. Es gibt keine konstanten Gefühle. Das Denken mag es wollen, erstreben und sich zurechtkonstruieren. Streben und Sterben, einmal das r vor dem e und einmal das e vor dem r - so klein ist der Unterschied zwischen dem, was das Denken will und was die Natur vollbringt. Sobald die Oktoberwinde da sind und die Sonne niedrig steht und ihre Schatten wirft, löst sich das Blatt vom Baum. Genieße den Flug des Blattes; er ist einmalig und unwiederholbar in seiner Schönheit.

Die Schwingung von Distanz und Nähe, von Kommen und Gehen - sie schwingt weiter. Warum sträubt sich das Denken dagegen, einfach mitzuschwingen? Laß den Gefühlen ihren Lauf, und genieße ihre Entfaltung; gerade durch die Vergänglichkeit erhalten sie ihre besondere Schönheit. Das ist nur eine Tatsache; nicht gut, nicht schlecht, weder Du noch ich haben die Welt konstruiert. Wir nehmen nur mit all unseren Sinnen Teil an diesem Geschehen. Sollen wir uns davor verschließen? Wir können nur aufmerksam daran teilnehmen, voller Mitgefühl - und das ist die Liebe.