Wege zur Gelassenheit
Die Kunst, souverän zu werden
Econ-Verlag, 208 Seiten
 

Leseprobe

Wege zur Gelassenheit
Econ-Verlag, Seite 196-199

Sei einfach du selbst - Brief an einen alten Freund

"Mein lieber Freund,

wir sind 1959 gemeinsam an Herbsttagen zur Schule gegangen und durch das braune, duftende Laub geschlurft. Du hast von Deinen ersten Gefühlen zu Elvira erzählt und mir Deine Sorgen vor der kalten Berufswelt offenbart. Ich erzählte dir etwas über meine Gedichte, die ich nachts in meiner Dachkammer schrieb, Du hast nicht darüber gelacht, sondern mir zugehört, keine Assoziation lenkte dich ab, ich war dir damals sehr dankbar dafür, ohne es mit Worten auszudrücken.

Du warst so mutig, voller Hoffnung, Optimismus und Vitalität - das gab mir Kraft. Ich konnte mit Dir laut und hemmungslos lachen, unser Gelächter scholl durch den Wald, es steigerte sich ekstatisch, und ich konnte in deiner Gegenwart tanzen, springen und die Bäume umarmen, dafür danke ich Dir und habe Dich geliebt, ohne das Wort 'Liebe' damals zu benutzen oder auch nur zu denken. Unsere Wege haben sich viele Jahre durch die Ausbildungszeit, den Beruf und unsere Partnerschaften getrennt, wir waren beide verheiratet und sind heute geschieden.

Vor einigen Wochen hast Du mich besucht, und wir sprachen bis morgens um vier über Dich und mich und den Sinn des Lebens. Du hast nicht mehr so unbeschwert gelacht und hattest keinen Sinn für meine Gedichte, darüber war ich etwas traurig - obwohl ich wußte, daß Du Deine Last bei mir ablegen wolltest. Du erzähltest mir von Deinen Konflikten und Deiner Krise, Deine Partnerin betrog Dich sexuell, und Du konntest und wolltest das nicht verstehen. Du wolltest wissen, warum sie Dich nicht so intensiv liebt, wie Du sie. Du warst nicht gelassen, sondern sehr aufgeregt, ängstlich, aggressiv und angespannt. Ich sollte Dir erklären, was der Sinn des Lebens sei, warum alles so schwer ist, warum Liebe so mißachtet werden kann, warum Sexualität mit den Jahren an Reiz verliert, wie man die kreisenden Gedanken und das Grübeln unterbrechen kann, wie man auf die bitterbösen Bemerkungen der Mitmenschen reagieren soll. Viele Fragen quälten Dich, Du warst so unsicher und dabei sehr verschlossen, gefangen in Deinen Problemen - voll Verbitterung. Du hattest Dich verändert - Deine Augen waren glanzlos, Dein Lächeln gezwungen und Dein Lob nur höflich.

Ich danke Dir, daß Du so viel Vertrauen hattest, in Deiner Verfassung so ehrlich zu mir zu kommen, nach so vielen Jahren. "Was habe ich falsch gemacht?" Diese Frage stelltest Du mir sehr oft. Du hast nichts falsch gemacht, aber Du warst mit dieser Antwort nicht zufrieden. Heute habe ich den Satz von Manfred Hausmann gelesen: "Wo kein Weg mehr ist, ist des Wegs Beginn." Du bist in Deinem Leben an einem Punkt angekommen, wo kein vorgezeichneter Weg mehr sichtbar ist, Du hast viele Grenzen überschritten, du malst Bilder, die keiner ausstellen will, Du liebst eine Frau, die Deine Liebe nicht benötigt, Du suchst Gespräche, die keiner mit Dir führen will, Du möchtest all die Werte verlassen, an die sich andere so klammern, Du suchst einen Gott, den keiner kennt, suchst eine Sexualität, von der keiner spricht, siehst Tautropfen im Geäst, die niemand beachtet, hast so viele Ideen, die als 'Ideale' und 'Utopien' belächelt werden.
Du bist sehr weit gegangen, mein Freund, aber nicht zu weit, wie du voller Zweifel befürchtest. So ist es richtig. Du bist so weit gegangen, zum Ende des Regenbogens, ans Ende aller Pfade, wo kein Wegweiser mehr steht. Jetzt endlich bist Du am Ziel angekommen, wo Dein Weg beginnt. Ich freue mich für Dich, ich bin glücklich, wenn ich an Dich denke, ich bin stolz auf Dich, daß ich Dich kenne, daß ich weiß, daß Du an dieser Stelle stehst.

Jetzt beginnt Dein Leben, Du gehst in Neuland, Du gehst Deinen eigenen Weg. Ich rufe Dir zu: Sei einfach du selbst. Frage niemand, was er für richtig oder falsch hält, gehe hinein in die weglose Landschaft der Gegenwart, mit Deinen eigenen Augen, mein Freund, das sind die wichtigsten Augen der Welt. Niemand kann Dir das Sehen abnehmen, oder für Dich sehen, riechen und schmecken. Es kann Dir einer etwas vordenken, aber das hilft Dir jetzt nicht mehr weiter. Du bist doch kein Imitator, kein angepaßter Mitschwimmer, Du bist Du selbst, ein ganz einzigartiges Lebewesen im Kosmos, und gehst deshalb Deinen ganz einzigartigen, unverwechselbaren Weg durch diese Zeit.

Sei einfach Du selbst, nichts anderes; schiele nicht mehr nach den Vorbildern unserer Jugendzeit, lege sie nur beiseite, Du sollst nicht kämpfen, stelle sie ins Regal, betrachte sie neutral, sie sind überholt, man kann mit ihnen tanzen und die Bäume umarmen. Am Ende der pfadlosen Landschaft ist der Beginn Deines Weges. Hier bist Du angekommen, und ich freue mich für Dich. Geh nicht zurück, schau nicht auf mich, nicht auf Deine Eltern, und schiele nicht mehr nach Deiner geschiedenen Frau. Jeder lebt sein eigenes Leben, keiner kann für den anderen leben, das weißt Du. Geh vorwärts, mein Freund, Du hast alles hinter Dir gelassen, jede Liebe, die jetzt kommt, ist so wunderschön neu, jeder Gedanke ist Dein eigener Gedanke, jedes Gefühl echt und frei. Du bist an einem Punkt angekommen, wo Du leben und lieben kannst, einfach nur du selbst zu sein. Ich freue mich, daß ich Dir an diesem Punkt wiederbegegnet bin, an dem Dein Alleinsein sichtbar wurde, Deine Getrenntheit von mir und allen anderen.

Flüchte nicht zurück in eine Scheingeborgenheit der Anpassung. Laß Dich von dem Wind, der jetzt aufkommt, erfassen und davontragen. Ich liebe Dich und betrachte Deinen Flug mit Freude. Sei Du selbst, und es ist richtig, was Du tust. Du kannst nichts falsch machen, wenn Du Du selbst bist, dann bist Du herrlich schöpferisch, dann beginnt für Dich jetzt nach langem Wachstum die Zeit der Blüte. Du fühlst die Schmerzen bevor sich die Blüte öffnet. Die Blüte hat Angst, sich Wind und Regen zu öffnen, aber schließlich kommt ein warmer Sonnentag, und sie öffnet sich doch, und entfaltet ihre einzigartige, zarte, zerstörbare Kraft und Pracht. Ich bin gespannt auf Deine Blüte und das Verströmen Deines Duftes. Die Zeit ist gekommen, in der Dein Blühen beginnt. Und bedenke, das Blühen eines Menschen ist nicht von kurzer Dauer, denn Du bist nicht an die Gesetze der Pflanzen gebunden. Du kannst noch viele Jahrzehnte täglich neu blühen, denn Deine Knospen wachsen stündlich nach. Schau aber nie mehr zurück auf die Zeit Deines Wachstums, laß Deine Vitalität in den Augenblick strömen, laß jetzt alles Vergangene los, dann wirst du leicht und frei, offen und gelöst, strömend fließend, Dich ergießend, unerschöpflich in Deiner Freude, von Augenblick zu Augenblick, von Beginn zu Beginn.