. Geheimisse der Liebe
Anthologie

Econ-Verlag, 315 Seiten

Leseprobe

Geheimisse der Liebe
Econ-Verlag, Seite 223 bis 226

VBei der Geburt ist der Mensch, von seinen Erbanlagen abgesehen, ein geistig-seelisch sehr plastisches Wesen, ist das lernfähigste Lebewesen auf dieser Erde, weniger eingebunden in ein starres Instinktprogramm als die Tiere. Die enorme Plastizität und Lernfähigkeit ist seine große Chance, aber auch seine Tragik. Der Mensch ist sehr lernbegierig, er will Erfahrungen sammeln und Wissen speichern. Er muss Wissen speichern und lernen, damit er in die hochtechnisierte Gesellschaft hineinwachsen kann, um später dort bestehen zu können. Das alles ist selbstverständlich und soll nicht in Frage gestellt werden. Um Auto zu fahren, muss man zunächst einmal die Verkehrsregeln beherrschen, und um eine Brücke zu bauen, muss man technische Voraussetzungen kennen und statisches Wissen besitzen, sich mit Mathematik und physikalischen Gesetzen beschäftigt haben.

Wenn wir jedoch in diesem Bereich der Kenntnisse, des Wissens und der Fertigkeiten verlassen und den Menschen als seelisches Wesen betrachten, sehen wir, dass er hier genauso lernend vorgehen will. Im seelischen Bereich wird er allerdings nicht fachgerecht unterrichtet – auf unseren Grund-, Haupt- und Realschulen gibt es kein Pflichtfach Psychologie-, und so ist er in seiner seelischen Verfassung sich selbst überlassen. Dennoch ist der Mensch auf seelischem Gebiet sehr lernbegierig und bereit, Theorien, Erfahrungen anderer, Lehrmeinungen und Lebensmaximen zu übernehmen. Er möchte wissen, was ist richtig und falsch, was ist gut und böse, was ist Moral, was Schönheit und Liebe, wie wird man glücklich, wie erlangt man Zufriedenheit und schöpferisch Kraft, wie lebt man erfüllt, und was behindert mich ein gutes und richtiges Leben zu leben? Mit all diesen Fragen wird der Mensch, wie gesagt, letztlich allein gelassen. Er kann sich zwar einer Religion zuwenden und seine Fragen dem Theologen stellen, aber erhält dann vorgefertigte Meinungen, die sich auf ein Glaubensdogma beziehen. Er kann das für sich übernehmen, aber auch unzufrieden sein und weiterfragen.

Wir werden in den Schulen und Universitäten für das Berufsleben ausgebildet. Aber wo werden wir für das Privatleben, für unser ureigenstes Sein ausgebildet? Es existiert war an Hochschulen das Fachgebiet Psychologie, aber das ist ein Studienfach für eine Berufsausbildung mit Diplomabschluss und keine Lebensschule.

Im Krisenfall können wir zwar die Praxis eines Psychologen oder Therapeuten aufsuchen. Bei allgemeinen Lebensberatungen dieser Art übernehmen die Krankenkassen jedoch nicht die Kosten. Ein Stundenhonorar zwischen 100 DM und 300 DM ist nicht für jedermann erschwinglich. Guter Rat wird dann sehr teuer. Wenn wir am Leben erkranken und somatische Symptome entwickeln, sind die Krankenkassen bereit, die Kosten eines ärztlichen Psychotherapeuten oder Nervenarztes zu übernehmen, der unsere seelischen Probleme dann nicht selten mit Psychopharmaka, also mit abhängig machender Chemie (die meist organische Nebenwirkungen hervorrufen), behandelt. Neben unseren quälenden Lebensproblemen, die nur vorübergehend betäubt werden (eben so lange, wie die Wirkung der Droge anhält), rutschen wir dann in neue Probleme hinein, die durch unangenehme Nebenwirkungen noch verstärkt werden: Schlafstörungen, Mattigkeit, Magenempfindlichkeit, das Gefühl der Passivität, das der Energielosigkeit. Wir helfen uns durch eine weitere Droge, die uns aktiviert, und brauchen wieder ein Droge, die uns zur Ruhe kommen lässt, dann wieder ein anderes Medikament, das uns wach und klar macht, eine weitere Droge, die uns einschlafen lässt. Wer einmal in diesem Teufelskreis war, wer es selbst erlebt hat, fühlt sich danach beschämt und selbstunsicher, und er vermag meist nicht offen darüber zu reden.

Aus vielen Leserbriefen, die ich natürlich vertraulich behandle, weiß ich um dieses Elend, in das Menschen rutschen können, die verzweifelt danach suchen, ihr seelisches Leben (das private Leben) zu meistern. Ich möchte mich an dieser Stelle nicht weiter in diesem Thema »Psychopharmaka« verlieren, denn darauf bin ich in meinen früheren Büchern ausführlich genug eingegangen.

Wir stehen alleine da mit unseren Fragen, Problemen und Konflikten. Um unser Privatleben, unser Glück, die Selbstentfaltung und den Sinn des Lebens müssen wir uns selbst kümmern. Die Gesellschaft bietet perfekte Ausbildungsmöglichkeiten für unsere Funktion im Berufsleben an, aber sie lässt es zu, dass wir von unqualifizierten Erziehern seelisch konditioniert werden. Man kann darüber heftig diskutieren, ob die Psyche ein Erziehungs-Freiraum sein soll oder ob die Gemeinschaft sich hier vor einer Verantwortung drückt. Wenn der Staat die Ausbildung der Persönlichkeit übernimmt, zum Beispiel in Diktaturen, auf entsprechenden Erziehungsanstalten, die einen Persönlichkeitstyp heranziehen, der den Zielen des Systems bedingungslos folgt, dann ist informelle Entwicklungsfreiheit natürlich auf jeden Fall das kleinere Übel.

Unabhängig davon, dass «Persönlichkeitsbildung« natürlich schrecklich missbraucht werden kann, bin ich dennoch der Auffassung, dass die Entfaltung des Seelischen nicht nur den Eltern überlassen sein soll – dass also aus Angst davor, etwas falsch zu machen, nun gar nichts mehr gemacht wird.

So fühlen sich alle zuständig, den Menschen zu manipulieren, für die eigenen Zwecke einzuspannen, doch niemand fühlt sich mehr zuständig, dem einzelnen dabei zu helfen, sich selbst zu finden, sein Wesen zu erkennen, sein Seelenleben zu erfassen. Jeder einzelne muss sich früher oder später damit auseinandersetzen. Er steht allein mit seinen Fragen, letztlich auch allein mit seiner Entscheidung, und das ist gut so. Aber wir sollten ihm wenigstens dabei helfen, seine Gefühle verbalisieren zu können, und wir sollten uns nicht scheuen, ihm Möglichkeiten zu zeigen, wie er aus Blockierungen des Denkens, aus krankmachenden Denkprogrammierungen, wieder in das Licht der Freiheit gelangen kann.