Die Sinne


Über die Sinne habe ich bisher noch wenig geschrieben. Wie sind die Erlebnisse, die wir über die Sinne wahrnehmen, eigentlich einzuordnen? Gehören Sinneserfahrungen zur Dimension ˝Ratio” oder zur Dimension ˝Seele“? Bei der Schilderung meiner Kindheitserlebnisse habe ich bereits angedeutet, dass die Wahrnehmungen über all meine Sinne für mich sehr wichtig waren.

Wir erfahren und erleben die Welt, die Natur, die Technik und die Menschen außerhalb unseres Ego primär über die Sinne, indem wir sehen, hören, tasten, riechen, schmecken, uns nach oben und unten, rechts und links bewegen. Über die Sinne zu erleben ist deshalb von sehr großer Bedeutung.

Stelle dir einmal vor, du könntest nicht sehen, wärest also blind, könntest nicht hören, also taub, könntest weder tasten noch greifen, nicht riechen, nicht schmecken, dich schließlich nicht bewegen. Das Erleben der Außenwelt wäre dann nicht möglich; es bestünde Dunkelheit, völlige Stille, du hättest kein Berührungserlebnis, nichts würde nach etwas riechen, nichts nach etwas schmecken, und es gäbe weder ein Unten noch ein Oben. Stelle dir vor, wie du dann leben würdest, sofern du überhaupt leben könntest. Solch eine Vorstellung ist eine albtraumhafte Vorstellung.

Mit den Sinnen alles um sich herum in der Gegenwart wahrzunehmen ist etwas Wunderbares. Nehmen wir aber im Alltag offen und aufmerksam wahr? Nutzen wir unsere Sinne wirklich lebendig? Wenn ich am Waldrand ein blühendes Veilchen sehe, beuge ich mich hinunter und betrachte es. Mein Gehirn, die Ratio, signalisiert mir: »Das ist ein Veilchen.« Im Gedächtnis ist das Veilchen gespeichert, und alles, was ich jemals über diese Pflanze erfahren habe, wird jetzt assoziiert. Das Denken kommt also zum rein sinnlichen Erleben hinzu, mischt sich sozusagen ein. So betrachte ich zwar aufmerksam das Veilchen, aber da das Denken hinzutritt, wird das sinnliche Erlebnis eingeordnet und katalogisiert. Das Denken überlagert das Sinnliche; es wirft einen Schatten auf das reine Erleben. Du siehst nicht mehr mit der Seele, dem Herzen, sondern auch mit dem Verstand. So wird die Schönheit des Veilchens entzaubert.

Ein anderes Beispiel : Vor einiger Zeit führte ich mit einem Geschäftsmann ein Gespräch in seinem Büro. Da ein herrlicher Tag war, schlug ich vor, nach draußen zu gehen, auf die Straße, um einmal den nächsten Häuserblock zu umrunden. Das Büro lag in einem schönen Viertel, das nicht zuletzt durch die gepflegten Häuser mit ihren unterschiedlichen Baustilen einen gewissen Charme ausstrahlte. Es war ein sonnenintensiver Tag, ziemlich windstill, gegen vier Uhr nachmittags. Ich genoss die Sonne und den leichten Luftzug. Im Vorübergehen zeigte ich meinem Begleiter die violettfarbenen Blüten eines Glyzinienstrauchs: »Sind diese Blüten nicht wunderschön?«, fragte ich. Er warf einen kurzen Blick auf den voll erblühten Strauch, war aber offensichtlich völlig unbeeindruckt, sagte nur: »Ja, schön « und ging weiter, redete weiter.

Das Einzige, was in ihm Platz hatte, war sein Denken. Davon war er beherrscht, und so drehte sich sein ganzes Ich um das Geschäft, das er mit mir vereinbaren wollte. Darauf war er voll konzentriert, war also nicht ˝ablenkbar“ von sinnlichen Reizen. Als Erfolgsmensch, der er war, hatte er nur sein Ziel vor Augen beziehungsweise im Sinn, und so konnte ihn nichts beeindrucken, schon gar nicht die Schönheit, welche die violettfarbenen Blüten eines Glyzinienstrauchs ausdrückten. Deshalb kam in seiner Seele, in seinem Herzen diese Schönheit nicht an. Sie war für ihn unwichtig, vielleicht auch durch Gewohnheit aus seinem Sehen gerückt. Unnötiger Mumpitz.

Für ihn stand die Ratio im Vordergrund und nicht das sensitive Erleben über die Sinne. Er hatte zwar seine intakten Augen, um zu sehen, war aber trotzdem ˝blind“, indem er seine Augen davor verschloss. Das ist nicht ganz richtig ausgedrückt, denn seine Augen waren ja intakt, er verschloss sie ja nicht, sondern sah die Blüten, nahm sie aber nicht wirklich wahr. Er blickte nur oberflächlich darüber hinweg, da sich sein Verstand ausschließlich mit dem bevorstehenden Geschäftsabschluss beschäftigte. Wirkliches Sehen mit Herz und Seele war für ihn schlichtweg unwichtig.

Dieses Beispiel zeigt, wie viele sich vom Denken dominieren lassen und wie die Ratio sinnliches Erleben ˝wegrationalisiert“. Die Ratio verdrängt und verleugnet sinnliches Erleben, mischt sich lediglich in Gesehenes ein, indem sie beispielsweise eine Bemerkung anbringt beziehungsweise zulässt wie: »Ja, ich weiß, das sind Glyzinien« oder: »Das ist eine Rose« oder: »Dieser Baum ist eine Buche « Es geht jedoch darum, die Rose wirklich zu sehen und den Baum in seiner Ganzheit zu erleben - und ob wir ihn dabei Buche nennen, ist völlig unwichtig für das sinnliche Erlebnis.

Das Wort ˝Buche“ beispielsweise ist ein Benennen durch Wiedererkennen, und es mag schön und gut sein, wenn der Betrachter den Namen weiß. Dem Erleben hingegen ist es völlig gleichgültig, welchen Namen das Denken dem Erlebten gibt. Sieh daher alles aus dem seelischen Sehen heraus, ganz ohne die Ratio. Das Erleben in der Gegenwart ist einfach nur präsent, es lebt für sich, während eine Benennung durch Wörter oder Begriffe, eine Klassifizierung nach einem System das authentische Sehen trübt. Sehen heißt direkt sehen, einfach sehen, ohne Einmischung des Verstandes und ohne Benennung durch Wörter oder Begriffe. Solcherart sehen heißt, mit der Seele und dem Herzen sehen, ganz spontan, in diesem Moment. Die Ratio ist ein Störer des Sehens, ebenso des Hörens und Riechens, des Schmeckens und Tastens. Intensität der Sinne ist nur möglich, wenn sich die Ratio nicht einmischt. Das ist Meditation - und auch Erotik.

Wenn die Sinne aufblühen, der Verstand schweigt, dann ereignet sich Schönheit in jedem Augenblick in voller Intensität, dann geschieht in der Seele, was wir als Moment des Glücklichseins beschreiben - und dann ist auch Glück präsent, ohne Drogen, ohne Psychopharmaka, ohne Ratio, ohne Sonnenstudio, ohne Sport. Einfach nur schauen, hören, tasten, einfach nur präsent sein im Augenblick, ohne etwas zu benennen, etwas beschreiben oder rational einordnen zu wollen oder gar zwanghaft zu müssen. Lass dir diese Offenheit deshalb von niemandem mehr verbauen.

Wie ist das möglich? Die Lösungskette lautet: Idol-Ich rausschmeißen, Normen-Ich loslassen, Ratio in die Schranken verweisen, das eigene Ego erkennen, auf welche Weise es im Kampf mit anderen Egos liegt. Also sinnlich wahrnehmen, im Augenblick erleben, offen sein, aufmerksam, mit Herz und Seele, dabei die Ratio ignorieren, weil sie eine destruktive Energie im Bereich der Sinne ist.

Mit allen Sinnen zu leben, in der Dimension der Sinne aufzugehen und die Ängste, nicht rational zu sein, als falsch zu erkennen - das bedeutet, in der Gegenwart sinnlich präsent zu sein, also aus dem Herzen zu leben. Es ist im Grunde so leicht, weil es dem Menschen - vergleichbar den Tieren - adäquat ist.

Leider mischt sich die menschliche Ratio wie zwanghaft, automatisch ein. Gebrauche deine Ratio also nur dann, wenn sie wirklich notwendig ist. Um eine Blüte zu betrachten, ist sie nicht notwendig, ja störend, um im Augenblick alle deine Sinne zu entfalten. Ohne Ratio ist Liebe und Meditation da, denn dann haben die Sinne Priorität und lassen dich Glück und Schönheit erleben.