Marion Kokott,
Der kubanische Geliebte



Leseprobe

Die Liebe zu meinem Geliebten wird mein Herz öffnen.
Wenn ich meinen Geliebten liebe, werde ich alles lieben - einen Grashalm, einen
Stein, die Bäume, das Meer, den Himmel, die Wolken, den Regen, die Menschen,
die Sterne.
Meine Liebe wird sich unendlich ins Universum ausdehnen können.
Wenn ich nur noch Liebe bin, werde ich alle Angst verlieren, auch die letzte und
größte Angst des Menschen, die Angst vor dem Tod.
Wenn ich nur noch Liebe bin, werde ich wissen, dass es keinen Tod gibt, sondern
nur ein Fließen von einem Zustand in den anderen. Wenn ich nur noch Liebe bin,
werde ich die Musik des Universums hören und den ewigen Frieden finden.



Die Brandung rauscht an die steinige Küste.
"Pass auf, dass du nicht herunterfällst.„ ruft er.
Sie lacht und läuft unbeirrt weiter.
"Hast du Angst um mich?„
Sie schließt ihre Augen und balanciert, mit den Armen das Gleichgewicht haltend,
etwas langsamer als zuvor.
"Wenn du Vertrauen hast, kann dir nichts passieren.„ ruft sie gegen das Rauschen
des Meeres an.
"Wenn du Vertrauen hast, kannst du mit geschlossenen Augen eine befahrene
Straße überqueren und es wird dir nichts geschehen.„
"Das ist kein Vertrauen, sondern Dummheit.„ ruft er, ohne sie aus den Augen zu
lassen.
Sie lacht wieder.
"Kennst du Jesus? Er ist über den See Genezareth gelaufen.
Er konnte das, weil er bedingungslos vertraute. Er vertraute Gott seinem Vater.
Kennst du das Spiel, wenn kleine Kinder die Augen zumachen, die Hand ihrer Mama
greifen und sich blind durch die Straßen führen lassen? So ähnlich musst du dir das
vorstellen.
Du bist misstrauisch, nicht wahr?
Du misstraust allem und jedem. Du denkst, jeder will ein Geschäft mit dir machen
und du siehst zu, dass du dabei möglichst immer als Gewinner dastehst. Aber bei
diesem Geschäft gibt es nur Verlierer.
Du verlierst deine Mitte, deine Seele.
Höre auf misstrauisch zu sein.
Wenn du anderen misstraust, werden sie auch dir misstrauen. Wenn du kein
Vertrauen schenken kannst, heißt das letztendlich, dass du dir selbst nicht vertraust.
Du musst lernen, deiner eigenen Identität, deiner eigenen Individualität zu vertrauen.
Das ist Intelligenz, keine Dummheit.„



"Weißt du um die Unendlichkeit allen Lebens, hörst du auf, Angst zu haben.
Und wenn du aufhörst, Angst zu haben, dann wird dir nichts mehr geschehen.
Die Angst lässt die Dinge passieren.
Wenn du Angst hast, krank zu sein, wirst du krank werden.
Wenn du Angst davor hast, einem Menschen zu vertrauen, wird er dich hereinlegen.
Ich kann dir nicht erklären, warum das so ist, aber es ist meine Erfahrung, dass es so
ist.„



"Schau dir die Menschen an. Sie tragen alle Masken.
Du wirst wenige Menschen finden, die echt sind.
Dabei merken die Menschen nicht einmal, dass sie Masken tragen.
Sie haben sich so daran gewöhnt, dass sie irritiert sind, wenn sie einen Menschen
treffen, der keine trägt.
Sie halten diesen Menschen für verrückt. Sie wollen nichts mit ihm zu tun haben. Im
schlimmsten Fall nageln sie ihn ans Kreuz.
Die Masken machen die Menschen hässlich.
Sie lassen sie zu grotesken Figuren in einem absurden Theaterstück werden. Jeder
identifiziert sich mit der Rolle, die er spielt, aber es ist nur eine Inszenierung.
In wenigen Situationen, hat der Mensch die Möglichkeit, seine Masken fallen zu
lassen.
Wenn er anfängt zu lieben, beginnen diese zu bröckeln.
Wenn er dem Tod ins Gesicht sieht, fallen sie jäh von ihm ab.
Wenn er in sein Zentrum geht, in die Stille, bekommt er einen Einblick dahinter.
Für alle drei Dinge braucht der Mensch Mut - den Mut, von ganzem Herzen zu
lieben; den Mut, dem Tod in die Augen zu schauen; den Mut, in seinen tiefsten
Wesenskern einzudringen.
Denn hinter diesen Masken ist nichts, ist Leere, ist ein gähnender Abgrund.
Der Mensch hat Angst vor diesem Abgrund, weil er nicht das Ende sehen kann.
Aber nur wer den Mut hat, in diesen Abgrund hineinzuspringen, mit bedingungslosem
Vertrauen, kann neu geboren werden, kann als neuer Mensch wieder auferstehen.
Dieser neue Mensch wird durchdrungen sein von Liebe.
Aber diese Liebe ist nicht mehr menschlicher Natur, sie ist göttlich.
Sie verweilt nicht bei einem einzigen Menschen, sondern schließt die gesamte
Existenz ein.
Dieser neue Mensch wird von innen leuchten und die Ängste der Menschen werden
ihn mit tiefem Mitgefühl erfüllen, weil er weiß, dass alles Leid auf dieser Erde durch
diese Ängste erschaffen wird.
Dieser neue Mensch wird keine Angst vor dem Tod haben, weil er bereits den
Abgrund - das Nichts kennt.