. Ausbruch zur inneren Freiheit
Mut, eigene Wege zu gehen

Econ-Verlag, 208 Seiten

Leseprobe

Ausbruch zur inneren Freiheit
Econ-Verlag, Seite 165 bis 168

Warum ist das Gute so wenig attraktiv?

Zunächst einmal möchte ich nochmals rekapitulieren, was das Gute ist. Der gute, der positive Mensch besitzt vor allem Mitgefühl für seine Mitmenschen. Sein Gefühl für andere ist nicht abgestumpft oder gar ins Negative verkehrt. Er ist seelisch nicht so verholzt, dass keine Gefühle mehr durch seine Seele pulsieren können.

Der Begriff Seele besitzt die entscheidende Bedeutung, denn der Körper ist, wie ich immer wieder betone, nur die materielle Basis. Der Geist ist nur eine Fähigkeit mit Werkzeugfunktion, die Seele aber ist das Zentrum. Die italienische Mystikerin Katharina von Siena (1347 bis 1380) formulierte es so: »Die Liebe trägt die Seele wie die Füße den Leib.« Dieser Gedanke weist uns also noch einen Schritt weiter. Katharina von Siena sagt, dass der Körper auf den Beinen steht und von den Füßen getragen wird; sie schreibt der Liebe diese elementare Bedeutung (wie die Füße für den Körper) für die Seele zu. Die Seele ruht also auf der Liebe und wird von ihr getragen von einem Tag zum anderen und von Ort zu Ort. Wenn wir von Seele sprechen, dann reden wir von Mitgefühl und von Liebe. Wenn wir von diesen beiden Komponenten der Seele reden, dann müssen wir auch von Freiheit, Gelöstheit und Sensitivität sprechen, denn Liebe ist nur in ihrer Entfaltung möglich, wenn Gelöstheit und Freiheit bestehen.

Der Unfreie und der nicht Gelöste, also der Angehaftete, der Angespannte, der Angebundene, befinden sich in einer Situation, die Mitgefühl und Liebe nicht zur Entfaltung bringen kann, da sie durch ihre Unfreiheit Probleme besitzen, die im Vordergrund stehen, nämlich erst einmal frei zu werden. Wer in Gefangenschaft lebt, hat das elementare Bedürfnis, frei zu kommen - seine sonstige Offenheit ist dann beschränkt. Natürlich besteht die Möglichkeit, auch in Gefangenschaft zu lieben. Weil wir etwas geliebt haben, die Blätter im Herbstwind, eine Frau oder einen Mann, werden wir Kraft und Energie daraus entnehmen und uns in Liebe wieder offen zuwenden können, vor allem später - in der Freiheit, die wir ersehnen.

Wenn die Gefangenen im Dogenpalast von Venedig zum Gerichtsverfahren geführt wurden, dann konnten sie auf diesem Weg aus den Fenstern einen Blick auf das Meer und den Himmel werfen. Nach der Qual der Gefangenschaft ist dieser Blick in die Freiheit der Welt von ungeheurer Intensität. Deshalb haben manche Gefangene auf diesem Weg bei diesem Blick aufgeseufzt, vielleicht sogar aufgeschrieen. Die Bürger von Venedig haben diese schreienden Seufzer durch die Fenster gehört, und deshalb heißt dieser Übergang über einen kleinen Kanal, der darunter verläuft, »Seufzerbrücke«. Vor dieser weltberühmten Seufzerbrücke lassen sich jährlich Hunderttausende von Touristen fotografieren. Aber kaum einer kennt den wirklichen historischen Hintergrund. Viele Hochzeitsreisende glauben, es wäre ein Ort, an dem sich Liebespaare trafen. Er war in der Geschichte von Venedig aber nie ein solcher Ort, sondern ein Platz des Schauderns. Und doch hat die Seufzerbrücke viel mit der Liebe zu tun, denn der erhaschte Blick in die Freiheit ist Liebe, und das Aufstöhnen der Gefangenen ist der Aufschrei ihrer Seele, die die Liebe vermisst hat und sie plötzlich schockartig in der Seele fühlt. Freiheit ist Liebe, und Liebe braucht Freiheit. Freiheit ist der Sauerstoff zum Atmen, damit Liebe leben kann.

Wer weiß, was Liebe ist, und wer liebend lebt, der hat auch Mitgefühl für alle Lebewesen. Das ist das Gute. Das Wort »Güte« hängt damit zusammen. Wer liebt, kann gütig sein. Mitgefühl bedeutet, gütig sein zu können. Warum ist das nicht attraktiv? Warum werden wir von Gewalt, Schrecken, Terror und Angstszenen in den Medien mehr gefesselt und weniger von Mitgefühl und Liebe, also Güte, Toleranz und Freiheit?

Das Böse ist einfacher, denn es ist das Brutale, das wir fürchten. Andererseits sehnen wir uns nach Freiheit und Liebe. Seltsam, aber vielleicht gar nicht so seltsam ist die Wertung: Liebe, Mitgefühl und Güte werden als »kitschig« und »romantisch« bezeichnet. Woher kommt die Abwertung? Warum ist Liebe »kitschig«? Auch das Schöne gilt als kitschig, während das Hässliche, die Gewalt, die Spannung, die Aggression nicht kitschig sind. Warum ist das so?

Für einen Künstler, der eine Arbeit vorlegt, ist es das schlimmste Werturteil, wenn es heißt: »Kitschig!« Ist das Schöne und Gute kitschig? Ist die Liebe kitschig? Sind Gewalt und Aggression Kunst?

Wir sollten unterscheiden zwischen geschönter Wirklichkeit, um einen Zuckerguss darüber zu gießen, und der realen Wirklichkeit, in der es Liebe und Freiheit gibt. Der Gefangene, der einen Blick aus dem Fenster wirft und vor erfüllter Sehnsucht aufseufzt, denkt weder an Kunst noch an Kitsch. Seine Seele reagiert. Er will nichts verschönen. Kitsch überzieht die Wirklichkeit verschönend und will sich so verkaufen. Die unfreie Seele will aber nichts verkaufen.

Die Seele steht auf den Beinen der Liebe sicher und fest. Das ist kein Kitsch. Das Gute ist nicht kitschig. Deshalb lässt es sich nicht so gut verkaufen wie wirklicher Kitsch. Das wirklich Gute ist das eine, das herbeigekünstelte Gute ist etwas anderes. Wir schauen etwas verächtlich auf das Gute, vielleicht weil es langweiliger wirkt als das Böse, aber auch, weil wir vom Bösen schon durchdrungen sind. Wir sind Gefangene, zwar nicht in konkreten Kerkern des Dogenpalastes, aber in den Gefangenheiten der Gesellschaft. Gefangene interessieren sich für das Leben von Gefangenen; unterdrückt Aggressive interessieren sich für ausgelebte Aggressionen. Liebende interessieren sich nicht für diese Dinge - sie gehen in ihrer Liebe auf. Liebe ist Erfüllung, und darin liegt keine Spannung. Liebe ist jenseits von Kunst und Kitsch. Kunst und Kitsch sind nur Etiketten, die von Intellektuellen eingesetzt werden. Ein Liebender und eine Liebende werden ihre Liebe nicht als Kitsch empfinden. Und das ist sie auch nicht. Es geschieht zwischen ihnen das Gute. Das hat keine Attraktivität für die Außenwelt; sie ist entweder neidisch oder hält das, was geschieht, für unspektakulär. Mitgefühl, Liebe und Güte besitzen keine Attraktivität für die anderen. Attraktiv wirkt das erst als Kitsch; es muss dann überhöht und gesteigert werden, also überromantisiert erscheinen. Wirkliche Liebe aber ist nicht sentimental. Also hat sie als Kitsch keine Chance.

So pendeln wir in den Medien zwischen Gewalt und Kitsch hin und her. Die Wirklichkeit von Mitgefühl, Liebe und Freiheit bleiben auf der Strecke. Wir dürfen uns deshalb nicht an der Welt der Medien orientieren, sondern können die Wahrheit, Wirklichkeit und Echtheit nur in uns selbst finden. Unsere Seele steht auf den Beinen der Liebe. Dann fällt die gesamte Medienwelt - mit Kunst und Kitsch - in eine Entsorgungsmülltonne.