Lebe leicht und frei
.... und niemand kann dich aufhalten
Lübbe-Verlag, 270 Seiten
 

Leseprobe

Lebe leicht und frei
Seite 77-Seite 82

Angst verschwindet nie ganz

Angst taucht oft dann auf, wenn wir mit etwas Neuem konfrontiert werden, mit etwas, das wir noch nicht gut genug oder überhaupt nicht kennen. Auch das gehört zu unserer Natur, es ist also normal. Angst hat eine biologisch wichtige Funktion: Sie läßt uns vorsichtig sein, indem sie den Selbstschutz fördert, dient sie dem Überleben. Auf der psychischen Ebene hat Angst die gleiche Funktion wie der Schmerz im körperlichen Bereich. Schmerz sagt uns: Halt, hier ist etwas Verletzendes, was für dich lebensbedrohlich werden könnte! Achte auf deinen Fuß, denn du bist auf eine Glasscherbe getreten. Also Vorsicht!

Ähnlich signalisiert uns die psychische Angst, daß wir mit etwas Neuem konfrontiert werden (was uns durchaus gefährlich werden könnte). Die Angst sagt: Vorsicht, hier sind Menschen, die du noch nicht kennst; sei erst einmal aufmerksam - und prüfe das Terrain, auf das du dich begibst.

So ist Angst etwas Positives, weil sie unsere Wachheit und Aufmerksamkeit erhöht. Durch sie werden die Sinne geschärft, damit wir hellwach und voll präsent in der Gegenwart sind, denn wenn wir etwas Neuem in unserem Alltag begegnen, ist erhöhte Aufmerksamkeit mitunter (lebens)notwendig. Allein schon aus diesem Grund kann die Angst nie gänzlich ‘überwunden’ werden. Nur ein Roboter und eine Maschine ohne Seele sind angstfrei.

Kein Therapeut der Welt kann einen Menschen völlig von Ängsten befreien; das wird er auch nicht im Sinn haben. Wenn aber das Denken die Angst steigert, oder wenn Angst erst durch Denken erzeugt wird , dann kann der Therapeut eingreifen. Es geht aber dann nicht um die Vernichtung der Angst, sondern um das Verständnis für die Zusammenhänge. So wird uns beispielsweise in der Therapie bewußt gemacht, daß wir selbst die Angst nähren, ohne daß eine reale Grundlage dafür vorhanden ist. Unser eigenes Denken macht aus der gesunden natürlichen Angst eine neurotische Angst, die uns erst dann behindert.

Angst gehört als Ausdruck seelischer Ausgewogenheit zu einem gesunden Leben. Da die meisten Menschen leider diese positive Einstellung zur Angst verloren haben, versuchen sie, weil sie die Angst nicht bekämpfen können, ihr auszuweichen.

In einer Atmosphäre der Sicherheit fühlen wir uns angstfrei. Sicherheit besteht im Bekannten, in der Routine, kurz in allen Bereichen, die uns vertraut sind. Unsicherheit tritt auf, sobald etwas Unbekanntes daherkommt, etwas, das nicht mit Routine erfaßt werden kann, also etwas das wir nicht kennen. Sicherheit bietet das Bekannte, also das Alte, während Unsicherheit durch Neues und Unbekanntes erzeugt wird. Im Bekannten fühlen wir uns angstfrei, und im Neuen entsteht Angst. So ist es zu verstehen, warum sich die meisten Menschen Sicherheiten schaffen, um sich im Alten und Bekannten gemütlich und geschütz einzurichten. Deshalb verteidigen wir ja auch Traditionen und Konventionen. Das wird natürlich auf Dauer langweilig und öde.

Deshalb konnte das Fernsehen (neben anderen Gründen) einen solchen Siegeszug antreten, weil man sich zuhause, in vertrauter Atmosphäre, dennoch etwas Neues, dazu noch völlig keimfrei, auf elektronischem Wege, anschauen kann. Kriminal- und Horrorfilme sind ganz besonders beliebt, weil wir ja die Lust nach etwas Neuem durchaus in uns tragen, uns diesem Neuen am Bildschirm aber in Sicherheit nähern können. Beim Betrachten eines spannenden Krimis entsteht in der Seele durchaus Angst, aber da wir uns zu Hause sicher und geborgen fühlen, kann die Angst nicht greifen. So werden wir immer angstverwöhnter und schmälern unsere Fähigkeit, wirklicher Angst bei real Neuem im Alltag zu begegnen. Wir puffern uns sozusagen vor dem wahrem Leben ab, um die Angst in Grenzen zu halten. Dadurch versäumen wir das wirkliche Leben und werden körperlich und seelisch träge. Wir können deshalb immer weniger reale Angst im wirklichen Leben aushalten, weshab wir auch mehr und mehr, davor zurückschreckenen, Neues zuzulassen, geschweige denn zu beginnen. Deshalb scheint es uns äußerlich zwar gut zu gehen, doch wirklich glücklich sind wir nicht.

Wir sollten uns deshalb näher mit dem Komplex Sicherheit und Unsicherheit befassen, der Thematik Neues und Altes. Im Alten gibt es ein Wohlgefühl der Bequemlichkeit, es geht alles seinen bekannten Gang. Das aber macht uns seelisch-geistig alt. Andererseits aber steht dem ein Jugend- und Fitnesskult von Freiheit und Flexibilität entgegen. Das ist aber ein Ideal, das wir uns aus der Sicherheit heraus mit Abstand ansehen.

Dieser Jugendkult hat übrigens nichts mit seelischer Freiheit zu tun. Sie ist hier nicht möglich, denn Jugendfitness ist gebunden an ein Schönsein, das der Konvention dient: Nur wenn du schön bist, wirst du anerkannt und bewundert werden. Solch ein Denken macht unfrei - da nützt selbst die größte Bewunderung herzlich wenig.

Das Neue hat keinen Platz, denn es erzeugt Angst. Freiheit heißt aber, das Neue zu begrüßen und es nicht ins Netz des Alten zu integrieren versuchen. Freiheit heißt Angst fühlen, heißt, diese Angst nicht zu unterdrücken oder zu verbergen. Freiheit heißt aber niemals Angstfreiheit! Neues wirkt zwar vitalisierend, aber dennoch sind wir nicht in der Lage, der Angst zu entkommen - weder im sicheren Nest unserer Eigentumswohnung, viel weniger natürlich im Abenteuerurlaub bei einer Expedition, die durch den Dschungel von Brasilien führt.

Wer das Neue im Leben sucht, ist nicht angstfrei, ist allerdings dazu bereit, die eigene Angst zu erleben, ohne sie verdrängen zu wollen. Er lernt mit ihr zu leben. Auf einem T-Shirt eines Touristen in Spanien las ich den Spruch: ‘No risk, no fun.’ Das ist sehr treffend, denn wir brauchen Risiko, um das Prickeln des Lebens zu empfinden. Wir sind geradezu gezwungen, die Insel der Sicherheit zu verlassen, um Spaß, Freude und Glück erleben zu können. Treffend wäre auch der Spruch: ‘No news, no happyness.’

Im Urlaub, wenn wir unsere Wohnung verlassen, jenen durch unsere Versicherungspolicen abgesicherten Hort der Routine, neues Terrain betreten und neuen Menschen begegnen, erleben wir zwar Angst, jedoch auch die Lebenslust, die damit verbunden ist. Für viele aber geht die Konfrontation mit neuen Städten, neuen Kulturen und neuen Mentalitäten ein großer Angststress einher. Deshalb entstehen an den Traumstränden dieser Länder Hotelkomplexe, in denen wir uns wie zuhause fühlen: Wir haben ein Bad mit Dusche, das Zimmer mit Telefon und TV - das alles gibt uns ein Stück Sicherheit, weil es uns vertraut ist. Da wir Neues nur portionsweise ertragen, soll es zunächst einmal so sein, wie wir es gewohnt sind, mit etwas mehr Sonne, mit etwas anderem Essen, und natürlich darf es auch der Sandstrand sein, damit wir keinen steinigen Weg zu den heranbrandenden und sanft auslaufenden Wellen haben. Ein bißchen etwas Neues, aber nicht zuviel, denn das wäre Stress und keine Erholung - weil Angst Stress ist.

Wir suchen das Neue; wie sehnen uns danach, und zwar in vielen Bereichen. Nur: Es darf wiederum nicht zu neu sein, denn sonst macht es uns Angst. Das ist bei der aktuellen Kunst, bei politischen Strömungen, bei unserem Partnerschafts- und Sexleben zu beoabachten. Jenes Neue hat eine große Bedeutung für das, was wir als Trend begrüßen - und andererseits ablehnen. Wir suchen das Neue, aber es darf nicht zu neu sein, damit wir nicht Gefahr laufen, es nicht sofort zu verstehen. Wir wollen eine neue Lebensphilosophie, die uns hilft, Traditionen und Konditionierungen zu verlassen, wir wollen Neues wissen über Sexualität und Liebe, wir wollen es sogar im Urlaub erleben, denn ‘no risk, no fun’, aber bitte nicht zuviel ‘risk’. Das Problem sind wir selbst, ist nicht das Neue.

Wer steht denn schon zum Beispiel zur Sommerzeit Ende Juni und Anfang Juli einmal morgens um vier Uhr auf, um einen Spaziergang am Waldrand zu machen, wenn in der Morgenluft die Vögel ihre Lieder singen und die Sonne hinter dem Horizont hervorkommt? Das wäre etwas außerhab der Routine, was uns bewußtmachen könnte, daß wir um acht Uhr zu unserer Arbeitsstelle fahren müssen, mit all den Gewohnheiten, all den Intrigen der Mitarbeiter - auch das schon Routine, denn das alles dreht sich um etwas Vertrautes, darum, wer Macht hat, Macht verliert und Macht bekommt. Das wiederum erzeugt ebenfalls Angst - obwohl es vertraut ist. Diese Angst jedoch ist alt, wird deshalb verdrängt - und sie macht uns neurotisch. Niemals läßt sie sich überwinden. Ich meine: Wenn schon Angst, dann richtige Angst, nämlich Angst vor dem wirklich Neuen. Die alten Ängste stinken ja wirklich unerträglich. Zu dieser Erkenntnis wird man beispielsweise gelangen, wenn man Pfade betritt, die nicht ausgetreten sind - etwa bei einem Morgenspaziergang, wenn die Sonne aufgeht.