Aus ganzem Herzen leben
- Folge deinen Gefühlen
Lübbe-Verlag, 320 Seiten
 


Leseprobe
Aus ganzem Herzen leben

Das Größere schauen und lieben

Wie meine Leserinnen und Leser aus früheren Büchern wissen, liebe ich den Dichter Rainer Maria Rilke. So habe ich sein Gedicht „Panther“ in meinem Buch „Der Sinn des Lebens“ (1989) und sein Gedicht „Der Fremde“ in meinem Buch „Lebe leicht und frei“ (1999) zitiert und interpretiert. Diesem Buch habe ich ein Rilke-Zitat als Motto vorangestellt: „Wir haben, wo wir uns lieben, ja nur dies: einander lassen; denn dass wir uns halten, das fällt uns leicht und ist nicht erst zu erlernen.“

Ich möchte mit Rilkes Gedicht „Der Schauende“ dieses Buch ausklingen lassen. Lese das Gedicht langsam und mache dir deine Gedanken dazu. Ich habe das Gedicht vor allem deshalb ausgewählt, weil es viel enthält, wovon das vorliegende Buch handelt.
Rainer Maria Rilke wurde am 4. Dezember 1975 in Prag geboren und starb am 29. Dezember 1926 in Val-Mont, einer kleinen Ortschaft im westschweizerischen Kanton Waadt. Er war nicht nur ein großer Sprachkünstler als Poet und Lyriker, sondern auch ein Visionär. Sein Gedicht „Der Schauende“ offenbart diese visionäre Seite.

Manche Leser mögen vielleicht einwenden, dass im Zeitalter von Computer und Internet, von UMTS und von Weltraumstationen im All ein Rilke-Gedicht „steinalt“ sei und uns nichts zu sagen habe. Dem kann ich nur entgegenhalten: Wahrheiten veralten nie. Sie bleiben ewig jung und sind jeden Tag aufs Neue aktuell.


Der Schauende

Ich sehe den Bäumen die Stürme an,
die aus laugewordenen Tagen
an meine ängstlichen Fenster schlagen,
und höre die Fernen Dinge sagen,
die ich nicht ohne Freund ertragen,
nicht ohne Schwester lieben kann.

Da geht der Sturm, ein Umgestalter,
geht durch den Wald und durch die Zeit,
und alles ist wie ohne Alter:
die Landschaft, wie ein Vers im Psalter,
ist Ernst und Wucht und Ewigkeit.

Wie ist das klein, womit wir ringen,
was mit uns ringt, wie ist das groß;
ließen wir, ähnlicher den Dingen,
uns so vom großen Sturm bezwingen, –
wir würden weit und namenlos.

Was wir besiegen, ist das Kleine,
und der Erfolg selbst macht uns klein.
Das Ewige und Ungemeine
will nicht von uns gebogen sein.
Das ist der Engel, der den Ringern
des Alten Testaments erschien;
wenn seiner Widersacher Sehnen
im Kampfe sich metallen dehnen,
fühlt er sie unter seinen Fingern
wie Saiten tiefer Melodien.

Wen dieser Engel überwand,
welcher so oft auf Kampf verzichtet,
der geht gerecht und aufgerichtet
und groß aus jener harten Hand,
die sich, wie formend, an ihn schmiegte.
Die Siege laden ihn nicht ein.
Sein Wachstum ist: der Tiefbesiegte
von immer Größerem zu sein.


Was denkst und fühlst du jetzt? Ist das veraltet? Oder ist das zeitlos und somit auch heute noch gültig? Ich weiß, die Sprache Rilkes ist in ihrer künstlerisch-poetischen Form nicht leicht, gar schnell zugänglich, aber dennoch ist es eine Sprache von Dichte, das heißt, es werden mit wenigen Wörtern tiefreichende Erkenntnisse wiedergegeben und komplexe Stimmungen eingefangen. Da diese Sprache vielen Lesern die Inhalte „verdunkelt“, werde ich nun durch meine Interpretation versuchen, jenes Dunkle „aufzuhellen“. – Anmerkung: Die Hervorhebungen in Kursiv sind von mir.

Der Betrachter sieht den Bäumen die Spuren der „Stürme“ aus „laugewordenen Tagen“ an. Die Szene spielt also im Herbst, wenn sich der Sommer neigt und der Oktober die weichen, warmen, lauen Temperaturen des Altweibersommers hervorbringt. Warum schlagen diese Stürme an meine „ängstlichen Fenster“? Weil ich ängstlich bin! Meine Ängstlichkeit lässt mich – von den „Fernen“ – „Dinge“ hören, „die ich nicht ohne Freund ertragen [und] nicht ohne Schwester lieben kann“. Es ist das Geschwätz der Leute, jener „Fernen“, das mich bedrängt. Obwohl ich mit diesen Menschen nichts im Sinn habe, bin ich ihren Floskeln und Redensarten ausgesetzt – erst mit einem „Freund“ oder mit einer „Schwester“ an meiner Seite lässt sich diese Situation besser „ertragen“, weil ich sie mit ihm oder ihr besprechen kann.

Der Herbststurm ist ein „Umgestalter“. Er fegt, in den stetigen Wiederholungen der Jahreszeiten, durch die Wälder in allen Jahren, und deshalb ist alles „wie ohne Alter“ in der „Landschaft“, der Natur, denn dort ist „Ernst und Wucht und Ewigkeit“: Lebewesen und Pflanzen kommen und gehen mit dem Frühling, dem Sommer, dem Herbst und dem Winter – das bleibt bestehen, jene ernste Wucht des Beständigen, die ewig währt.
Zurück zu uns Menschen: „Wie ist das klein, womit wir ringen“ im Vergleich zu dieser Wucht des Beständigen. Rilkes Vision: „… was mit uns ringt, wie ist das groß“. Was ist groß? Nicht ein Mensch, der mit uns ringt; das wäre klein. Groß ist, was jenseits von unseren Alltagsproblemen existiert: Liebe, Mitgefühl und Schönheit, das Schöpferische und das Seelische – Energien, die uns helfen könnten.

Wären wir „ähnlicher“ diesen „Dingen“, „ließen wir … uns so vom großen Sturm bezwingen“, um dann „weit und namenlos“ zu werden. Durch diesen Sturm könnten wir das Leben erleben, denn wenn er uns erfasst, trägt er uns davon und macht uns „weit und namenlos“, lässt uns also Freiheit erleben; es gäbe kein Kreisen mehr um „mein Ego“ und „dein Ego“, da wir ja namenlos (egolos) wären, frei und weit – und so auf eine bestimmte Weise sehr intelligent. Damit ist jene Dimension gemeint, welche nur mit der Seele erreicht werden kann, niemals aber mit der Ratio.

Das Ego kämpft täglich um seine kleinen Rechte, und deshalb mahnt Rilke: „Was wir besiegen, ist das Kleine“. Es ist sicherlich notwendig, um sein Recht in der Gesellschaft zu kämpfen, und es soll auch niemand rechtlos sein. Aber was bedeuten diese Siege, obwohl sie vordergründig notwendig sind? Solche Erfolge, so schön sie auch sein mögen, stärken nur unser Normen-Ich – denn: „… der Erfolg selbst macht uns klein“. Das Wörtchen „selbst“ steht hier für „sogar“. Demnach macht uns sogar der Erfolg klein.

Das Gedicht steigert sich: „Das Ewige und Ungemeine will nicht von uns gebogen sein.“ Das ist auf Anhieb schwer zu verstehen (weshalb Rilke als Lyriker nicht übermäßig populär ist – leider, will ich hinzufügen). Was der große Wortschöpfer damit sagen will, ist Folgendes: Es gibt etwas Konstantes, etwas, das „ungemein“ ist, also üblicherweise von der Allgemeinheit nicht erkannt beziehungsweise anerkannt wird, das aber dennoch existent ist. Denn: „Das Ewige“ kann von uns Menschen niemals „gebogen“ werden.

Plötzlich kommt ein Engel ins Spiel, also ein Symbol für das Ewige, da das etwas Größeres als das Menschsein ist. Rilkes Engel steht für die Kräfte des Kosmos, für dieses Größere, das Menschen nur so schwer erfassen können. Diese Energie spielt „unter seinen Fingern“ auf uns Lebewesen „wie Saiten tiefer Melodien“. Nicht wir spielen, sondern auf unserem biologischen Körper, der als Resonanzboden dient, auf den Saiten unserer Ratio und unserer Seele wird von einem Engel ein Lied gespielt (wobei „Engel“ mit „kosmischer Energie“ gleichzusetzen ist).

Die Ratio wehrt sich jedoch gegen die Vision eines solchen schöpferischen Engels, obwohl er Energie der Schöpfung ist. Schöpfung ist täglich präsent, und „Schöpfung“ ist ein Begriff, an den das Wort „Engel“ nicht heranreicht. Insofern ist dieser Begriff tatsächlich veraltet.

Kommen wir nun zum fünften und letzten Abschnitt des Gedichts. Langweilst du dich beim Lesen meiner Interpretation? Das wäre schade. Jetzt sollten wir nochmals Herz und Seele einsetzen, um das Fazit zu verstehen, denn hierauf läuft das ganze Gedicht hinaus.

Kann jemand den Engel „Energie“ überwinden? Diese große Energie verzichtet oft auf Kampf. Und diese Energie will nicht kämpfen, sondern fördern und heilen. Wer sich jedoch gegen diese Energie stellt, erfährt ihre Wucht. Wir sollten jenen Engel der Energie lieben, um „gerecht und aufgerichtet und groß aus jener harten Hand, die sich, wie formend, an ihn schmiegte“ hervorzugehen. Erkennst du diese Schönheit der Erkenntnis? Die Schöpfung ist eine sehr „harte Hand“, denn sie lässt in der Natur das Gesetz vom Fressen und Gefressenwerden, Entfalten und Sterben wirksam werden. Gleichwohl schmiegt sie sich formend an dich, weil sie dich liebt, selbst wenn sie dich andererseits auch wieder grausam beraubt. „Und groß aus jener harten Hand, die sich, wie formend, an ihn schmiegte.“ Das ist es, was ein Schauender dann sieht. Diese harte Hand ist keine kleinliche Autorität nach menschlichem Ermessen. Alle Siege aus jener Hand laden den Schauenden nicht ein; es gibt also keinen Grund für eine Siegesfeier, gleichgültig, unter welchem verbalen oder optischen Motto sie auch immer steht.

Wie zeitlos wahr sind die letzten beiden Zeilen des Gedichts: „Sein Wachstum ist: der Tiefbesiegte von immer Größerem zu sein.“ In diesen Zeilen spiegelt sich der gesamte Kosmos – ebenso in den drei ersten: „Ich sehe den Bäumen die Stürme an, die aus laugewordenen Tagen an meine ängstlichen Fenster schlagen.“ Schöner wurde mit Worten der Herbst nur selten in einen Satz gefasst. Jeder ist einbezogen in den Kreislauf der Natur. In diesem Kreislauf stehen wir als Einzelne mit offenen Sinnen, mit Liebe und Mitgefühl letztlich als die Tiefbesiegten. Es ist wichtig, das erkennen und erfühlen zu können. Dein und mein Wachstum ist, „… der Tiefbesiegte von immer Größerem zu sein.“

Es wäre schön, das zu erkennen, denn alle ausgeführten Gedanken im Buch verweisen darauf: Das Wachstum der Seele ist ein Wachstum, das es dir ermöglicht, vom Tiefbesiegten im Sturm der Bäume in die Dimension des Erkennens zu gelangen. Die weltlichen Siege laden dich nicht ein, denn dein Wachstum drückt sich in dem „Tiefbesiegten“ aus, der lediglich das „immer Größere“, das Ewige, das Wahre über sich hat.

Das Größere ist das Jetzt, ist deine Seele, dein Herz, sind deine Emotionen, ist deine Liebe, dein Mitgefühl. Du wirst vom bloßen Beobachter zum Schauenden – und dann werden Meditation und Liebe eins …